Um gleich auf den Punkt zu kommen: Ich verdanke Martha Ilse Müller mein Leben - indirekt zumindest.

Wie das? Nun, meine Tante war Hausangestellte bei meinem Vater. Ab und zu hat meine Mutter dort ihre Schwester besucht und ist natürlich auch meinem Vater begegnet. Als dessen Frau mit Anfang zwanzig verstarb und er als Witwer mit zwei kleinen Kindern plötzlich alleinstand, hat er kurzentschlossen meine Mutter gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Die war verständlicherweise erstmal total perplex, hat ihn gar lauthals ausgelacht. Aber relativ bald muß es wohl doch „gefunkt“ haben und gab sie ihm ihr Jawort. So geschehen am 22.Dezember 1945, einem Samstag. Tja, und ohne jene Zufallsbegegnungen bei meiner Tante gäbe es heuer weder mich noch diese Zeilen.

Tante Ilse ihrerseits war ähnliches Glück leider nicht beschieden. Ihre erste und einzige große Liebe endete mit einem schweren Motorradunfall und mehreren Monaten Krankenhausaufenthalt. Sie hatte einen komplizierten Beinbruch und in dessen Folge eine lebenslange Gehbehinderung erlitten. - Das Schicksal zieht manchmal ziemlich unerbittliche Kreise.

Sie blieb Angestellte auch in der jetzt neu zusammengesetzten Familie Steinhaus mit ihrer Schwester als Gattin des Hausherrn. Sicherlich keine leichte Konstellation, aber was gab es in der Nachkriegszeit schon für Alternativen.

Eine ihre zahlreichen Aufgaben bestand darin, mich allabendlich zu waschen. Ich war nach stundenlangem Spielen im Sandkasten oder wo und wie auch immer ständig dreckig von Kopf bis Fuß, sodaß die Reinigung nicht mit ein bißchen Waschlappen zu bewältigen war, sondern meist ein Fall für den sogenannten Spülstein in der Küche (!) wurde. Ein Badezimmer hatten wir seinerzeit noch nicht.

Eines Tages stand ich wieder einmal an besagter Stelle - splitterfaser nackt - während meine Schwester und mein Bruder ihr Butterbrot muffelten. Das war absolut nichts ungewöhnliches, sondern gang und gäbe - zigfache Abendroutine. Bis auf einmal… Bis es auf einmal an der Tür klopfte, dieselbige sich im nächsten Moment öffnete und meine Cousine Angela eintrat, ein Mädel ungefähr im beginnenden Teeniealter.

Aus wars mit „gang und gäbe“. Ich schrie wie am Spieß, offenbar meiner verletzten Scham bewußt (wobei ich aus heutiger Sicht sagen muß, daß meine Cousine mich, wenn überhaupt, wohl nur am Rande wahrgenommen und keinerlei Interesse an mir unbedeutendem Knäblein gezeigt hätte). Tante Ilse jedoch reagierte prompt und unmittelbar. Sie hob mich  mit einem Schwung aus dem Becken, stellte mich auf den Fußboden und umhüllte mich mit einem schützenden Handtuch. - Ewigen Dank dafür, o Hüterin meiner kindlichen Unschuld!

Weniger dankbar war ich ob der peniblen, ja, erbarmungslosen Aufsichtstätigkeit von Tante Ilse. Ihr entging nichts, was ich unaufgeräumt in den Ecken liegenließ oder wo es sonst bei mir an gebührender Ordnung und Achtsamkeit mangelte. Im Nachhinein sehe ich das mit etwas anderen Augen. Sie hat mich auf diese Weise zu einer ausgereiften Systematik erzogen, die mir später persönlich wie beruflich gut zustatten gekommen ist.

Zu meiner Konfirmation hat sie mir das Anfangspaket einer Märklin-Eisenbahn geschenkt, die ich viele Jahre auf- und ausgebaut habe, und an der ich auch jetzt noch emotional hänge, wiewohl sie aus altersbedingten technischen Mängeln derzeit nicht betriebsbereit ist. Der Gedanke an ihre ungewisse Zukunft erfüllt mich mit Wehmut.

Es gibt soviele Erinnerungen. Zum Schluß noch zwei, die Tante Ilses Charakter betreffen. Erstens: Während meines Theologiestudiums in Wuppertal war ich Mitglied eines Vereins, der sich um Familien in sozial schwierigen Verhältnissen kümmerte. Ich habe die Leutchen damals u.a. mit Kleidung versorgt, teils gebrauchten Kindersachen aus unserer Familie und Verwandtschaft, teils in Form eigens gestrickter Pullis, Höschen, Strümpfe und dergleichen. Tante Ilse war eine derjenigen, die unzählige Meter Strickgarn für die von uns so genannten „Kellerkinder“ verarbeitet hat. Ich denke, das zeigt ihr Herz für Menschen in Armut, vielleicht, weil sie einst selber in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist.

Zweitens. Meine Mutter ist im Alter zunehmend dement geworden. Tante Ilse hat ihr stets treu, geduldig und liebevoll beigestanden, sowohl in der Zeit, da sie noch allein im Haus Goethestraße wohnte, als auch gemeinsam im Alters(pflege)heim. Dort war sie ein bleibender, fester Bezugs- und Ankerpunkt für meine Mutter, die mich z.B. bei diversen Besuchen nicht mehr erkannt hat: „Wer sind Sie denn?“.

An all das denke ich gern und dankbar zurück. Und bete und bitte heute für meine Tante, die einst Patin für mich stand, um Gottes Patenschaft für sie, auf daß sie in Seinem Frieden ruhe und geborgen sei.