Herz und Schmerz der Weihnacht - „alle Jahre wieder

Fast schäme ich mich, es zuzugeben, zumal öffentlich auf meiner HomePage und damit in den weltweiten Stricken jenes Netzes, das nichts vergißt.

Aber was hilfts.

Es ist wie es ist, und ich kann mich nicht besser machen, als ich bin.

Also, hiermit gestehe ich:

Alle Jahre wieder“ in der Adventszeit schaue ich Weihnachtsfilme der literarisch so ziemlich untersten Schiene des Genre HerzSchmerz.

So, jetzt ist es raus!

Das heißt, noch nicht ganz.

Denn ich schaue ja nicht nur.

Sondern ich bange von Szene zu Szene, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt.

Weine, nein, heule wie ein Schloßhund, daß mir der Rotz in Strömen aus der Nase läuft.

Zerknüllte Papiertaschentücher stapeln sich neben mir auf dem Tisch.

Weil ich die schier unerträgliche Spannung nicht länger aushalte, drücke ich verzweifelt auf die Stopptaste.

Um sie im nächsten Moment wieder einzuschalten in dem erlösenden Wissen: Am Ende wird doch alles gut, Winfried!

In „Pohlmann und die Zeit der Wünsche“ beispielsweise überwindet der Protagonist seine tiefsitzenden Ängste vor sozialen Kontakten auf ebenso unfreiwillige wie herzergreifende Weise in einer Kinderklinik und findet zum guten Schluß - wie sollte es anders sein - das ersehnte Glück der Liebe.

In „Obendrüber, da schneit es“ öffnen sich ähnlich verworrene Wege und zwischenmenschliche Sackgassen zu neuen Perspektiven und gelingt einem aus meiner Zunft seine erste mit Bangen und Zittern gefürchtete Weihnachtspredigt, wie sie ehrlicher, lebensnaher und hoffnungsvoller nicht sein kann. - Ach, wie gern wäre ich er!

Ich liebe das. Ich brauche das. Ich genieße das. Ich will das nicht missen.

Alle Jahre wieder“.

Obwohl - oder gerade weil - alle Jahre wieder in der realen Welt genau das Gegenteil passiert.

Was ich hier und jetzt nicht zum xten Mal Schrecken für Schrecken minutiös aufzählen will außer - um der Aktualität willen - dem himmelschreienden Widerspruch zwischen dem politischen Asyl des syrischen Diktators Assad in Rußland „aus humanitären Gründen“ und der unfaßbaren, mit Worten nicht zu beschreibenden Inhumanität tausendfacher Leidens-geschichten in seinen Foltergefängnissen.

Was diese Dimensionen betrifft, fühle ich mich absolut hilflos. Kämpfe „alle Jahre wieder“ gegen den deprimierenden Impuls, die weihnachtliche Botschaft vom „Frieden auf Erden“ als bloßes frommes Märchen oder gar blanken Zynismus zu empfinden.

In diesem Jahr geben mir persönliche Gedanken und Erinnerungen ein wenig Kraft, den Kampf zu bestehen. Zwar nicht unmittelbar auf globaler Ebene, aber doch so, daß sinn- und hoffnungsvolle Dinge geschehen, die über die engen Grenzen meines subjektiven Horizontes hinausreichen.

Damit meine ich:

  • Licht in Finsternis.
  • Wärme in Eiseskälte.
  • Nähe in sich verlierender Ferne.
  • Erdenhaftung vor unendlicher Weite.

Wie oben auf dem Bild.

Und wie in folgender Begebenheit, die sich vor mehr als zwanzig Jahren zugetragen hat.

Es war an Heiligabend. Die Familie weihnachtlich beisammen. Kurz vor der Bescherung. Da fängt mein Funkmeldeempfänger plötzlich an zu vibrieren und die Leitstelle Dieburg ruft durch: Alarm für die Notfallseelsorge.

Ich bin der Diensthabende. Ganz bewußt an besonderen Tagen und Festen wie diesen. Tausche einen Blick mit meiner Frau und spüre ihr Verständnis. Das gibt mir Kraft.

Ich gehe ans Telefon im Nebenzimmer und rufe zurück. Ein Mann um die siebzig habe Suizid begangen. Polizei, Rettungs-dienst, Notarzt und Kripo seien vor Ort gewesen und hätten das Ihre getan. Der Bestatter habe inzwischen den Leichnam abgeholt. Nun sei die Frau allein und ich möge sie aufsuchen.

Ich steige in meinen Landrover. Es ist schon dunkel. Mein Kopfkino arbeitet. Was genau ist passiert? Und warum? Ausgerechnet an Heiligabend. Wie verzweifelt muß jemand sein, wie aussichtslos muß er seine Situation empfinden, daß er diesen letzten Schritt tut. Und einen anderen Menschen mit ins Dunkel reißt.

Ich klingele an der Haustür. Eine ältere Dame öffnet mir. Ich stelle mich vor und sie bittet mich herein.

Wir gehen ins Wohnzimmer. Es ist weihnachtlich geschmückt. Warmherzig. Richtig schön.

Wir setzen uns. Still. Schweigend. Eine ganze Weile lang. Und kommen uns darin näher. Ohne Worte. Nur Blicke und Gesten. Ein erstes, vorsichtiges Handauflegen.

Irgendwann erzählt Frau R., was geschehen ist. Ihr Mann sei den Keller gegangen, um etwas zu holen. Kam aber nicht wieder hoch zu ihr. Also ging sie nachschauen und fand ihn. Er hatte sich erschossen. Mit seinem Jagdgewehr.

Wieder langes Schweigen. Unterbrochen von Weinen und Schluchzen. Von Zeit zu Zeit auch laut und zornig aus ihr heraus-brechend: Warum…?!

Während dieser Phasen kreisen meine Gedanken um die Frage, wie es unten im Keller wohl ausschaut. Was wird sie finden, welcher Anblick erwartet sie, wenn sie morgen oder die Tage hinuntergeht?

Als ich das Gefühl habe, daß es möglich ist, bitte ich um Erlaubnis, in den Keller zu gehen. Unten angekommen verharre ich einen Moment in stillem Gebet. Und schaue mich um. Sehe eine große Lache aus Blut und Gewebeteilen. Er hatte sich durch den Mund in den Kopf geschossen.

Wie genau, weiß ich nicht mehr. Aber ich habe mir Eimer, Bürste und Lappen besorgt und die Überreste mit Unmengen von Wasser beseitigt, so gut es mir möglich war, getrieben von der Vorstellung, der Ehefrau diesen bitteren Dienst unbedingt zu ersparen.

Beim Abschied haben wir uns in den Arm genommen. Lange und fest. Schweigend. Einander ganz nah. Und - ich kann das weder beschreiben noch zeigen und schon gar nicht beweisen - mit einer spürbaren Kraft von außerhalb unserer selbst: Einem Moment des Segens.

Wieder daheim war Weihnachten für mich vorbei. Wollte aber der Familie die Freude nicht verderben. Bemühte mich deshalb, mir nichts anmerken zu lassen.

Doch wie durch ein Wunder wurde es ein Weihnachten der besonderen Art.

Wie oben auf dem Bild:

  • Das Licht eines Segens erfahren zu haben inmitten unseliger Dunkelheit.
  • Das Geschenk einer Wärme von „außerhalb“ inmitten der Kälte des Todes.
  • Die Erfahrung menschlicher Nähe in einer Situation unendlicher Ferne.
  • Das Gefühl, geerdet zu sein, obwohl einem der Boden unter den Füßen weggebrochen war.

Was will ich mit alledem sagen?

Gegenüber den Schrecken der globalen Welt fühle ich mich nach wie vor hilflos und habe „alle Jahre wieder“ meine Probleme mit der plakativen Wahrheit der Weihnacht.

Aber was, wie schlicht und unscheinbar auch immer, an Gutem und Segensreichem geschieht in (nicht nur meiner!) kleinen, subjektiven Welt, ist unbezweifelbarer Teil des großen Ganzen und bezeugt als solche die tieferliegende Wahrheit vom „Frieden auf Erden“.

Ja, „Welt ging verloren“ - geht es immer und immer wieder - und dennoch gilt: „Christ ist geboren, freue dich, o Christen-heit“.

Und darum, meine Lieben, stimmt jetzt einfach mit ein, laut oder leise, melodisch oder brummend, Hauptsache voller HerzSchmerz: „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“!